Unicef warnt vor Waisentourismus

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Petra on Tour
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Unicef warnt vor Waisentourismus

Ungelesener Beitrag von Petra on Tour »

Waisenkinder als Touristenattraktion für Volunteers aus reichen, westlichen Ländern, die für ihr Helfer-Erlebnis schließlich viel Geld bezahlt haben:

http://www.spiegel.de/reise/fernweh/kam ... 79866.html
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Astrid
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Unicef warnt vor Waisentourismus

Ungelesener Beitrag von Astrid »

Hallo Petra :)

Erst mal vielen Dank für den Hinweis auf den kritischen Spiegelartikel in bezug auf Waisenhaus-Voluntourismus, dem eigentlich auch noch die Unicef-Studie zugefügt werden muss, auf die sich der Artikel bezieht:

-> A study of attitudes towards residential Care in Cambodia .

Die wesentlichen Kritikpunkte der 75-seitigen Studie habe ich noch mal zusammengefasst:

1) Seit 2005 habe sich die Zahl der Waisenhäuser in Kambodscha nahezu verdoppelt (+ 75%). 2010 habe es ca. 270 Waisenhäuser mit ca. 12.000 Kindern gegeben. Ursache sei nicht etwa eine eine steigende Zahl an Waisen (die zum großen Teil durch die erweiterte Familie mitversorgt werden), sondern die Tendenz, zunehmend auch Kinder, die keine Waisen sind, aus "Kosten- bzw. Ausbildungsgründen" in ein Heim zu geben. Der Anteil dieser Kinder in den Waisenhäusern Kambodschas soll laut Studie ggw. knapp 50% betragen, da ein Waisenhaus in Kambodscha fast den Status eines "Internats" habe.
Je höher die Förderung von Waisenhäusern (fast ausschliesslich durch internationale Spenden) sei, desto größer sei die Wahrscheinlichkeit der Unterbringung von Kindern armer Familien in Waisenhäusern...
und das, obwohl die Kosten pro Kind im Waisenhaus ein vielfaches höher liegen, als wenn die Kinder innerhalb des erweiterten Familienverbandes unterstützt werden.

2) Der in Kambodscha z.T. übliche und erfolgreich an das Gewissen appellierende "Waisentourismus" (Orphanage-Tours, tanzende Waisenkinder) und die fehlende staatliche Qualitätssicherung erhöhe die Gefahr von Korruption, Unterschlagung, Kinderarbeit, körperlicher Vernachlässigung, sexuellem Missbrauch, Kindeshandel... - ganz zu schweigen von der finanziellen Ausbeutung Hilfswilliger (z.B. ~ 3000US$ für ein mehrwöchiges "Praktikum" bei einem Einkommen von max. 2 US$ pro Tag für knapp 80% der Bevölkerung, offizieller Mindestlohn von 100 US-Dollar pro Monat bei 48 Wochenstunden, 70% iger Analphabeten-Rate, 1/3 der Bevölkerung Kambodschas unter der Armutsgrenze lebend (Quelle: GIZ).
Allerdings wurden auch die Ergebnisse eines Reports der International Labour Organisation aus 2001 genannt, nach denen 86% aller kambodschanischen Kinder als unbezahlte Familinenkräfte arbeiten...

3) Die in den Waisenhäusern Kambodschas meist herrschende hierarchische Struktur werde von den Kindern häufig als einengend und wenig liebevoll empfunden, auch seien körperliches Wohlergehen und Bildung bei weitem nicht so wie erwartet (nur selten, dass es jemand zum Studium an einer Universität schaffe) und bei vielen herrsche das Gefühl, der "Außenwelt" wegen fehlender Erfahrungen von Familienleben, Peer-Gruppe und sozialen Kontakten nicht gewachsen zu sein.

4) Obwohl freiwilliges Engagement vor Ort meist gut gemeint sei, solle man nicht vergessen, dass die in einem Kinderheim untergebrachten Kinder bereits Trennungen und den Verlust von Beziehungspersonen erfahren mußten und sich nach Zuneigung sehnen. Die zwischen Volunteeren und Kindern entstehenden Beziehungen führten beim Abschied häufig ungewollt zu Re-Traumatisierungen und einer daraus resultierenden Gefahr von Verhaltens- und langfristigen Bindungsstörungen. Andererseits seien die meisten Waisenhäuser in Kambodscha personalmäßig unterbesetzt (bis zu 80 Kinder pro Betreuer), so dass die Kinder unter einem emotionalen Mangel leiden...


Meine Erfahrung des Voluntierens in einem Waisenhaus ist, dass es einem viele Kinder leicht machen, sich selbst gut zu fühlen bzw. das Gefühl zu haben, etwas Gutes zu tun. Die Mehrzahl ist anhänglich, sucht den Körperkontakt und die Aufmerksamkeit verbunden mit der darunter verborgenen Hoffnung, ausgewählt und mitgenommen zu werden. Eine Mischung aus Unverständnis, Enttäuschung, Trauer oder Ärger, wenn selbst kurzfristig zur Verfügung stehende Volunteere nicht mehr kamen, war häufig über längere Zeit spürbar. Das größte Problem für die meisten Voluntäre schien mir, angesichts des emotionalen Hungers Grenzen zu setzen, was das Aufkommen unrealistischer Erwartungen steigerte...


Das Anliegen der Untersuchung sei es ganz bewusst nicht gewesen, eine Bewertung von Waisenhäusern vorzunehmen, sondern zu informieren und neben positiven Aspekten von Waisenhäusern (Bereitstellung von Unterkunft, Verpflegung, Kleidung, ärztlicher Versorgung und Bildung) auch die negativen Aspekte, potentiellen Risiken und den kulturellen Hintergrund der Situation in Kambodscha darzustellen.


Statt sich über profit-orientierten Volunteer-Organisationen als Freiwillige verschicken zu lassen, werden Hilfsorganisationen wie UNICEF Cambodia, Rotary International Angkor und kirchliche Organisationen genannt, die eine "Community based Care" fördern (z.B. in Form von Bereitstellung von Lebensmitteln, Schulbüchern, Schuluniformen oder Kauf / Hilfe bei der Reparatur eines Fahrrades, wenn die Schule mehrere Kilometer entfernt liegt, Bezahlung von Lehrern...).


Noch ein paar weiterführende Links zum Geschäft mit Waisenhäusern in Kambodscha:
-> Sisha - Government closure of abusive orphanage
-> Sisha - Emergency orphanage shutdown
-> Aljazeera - Cambodia's Orphan Business
-> Cambodia's 'fake' orphans

Liebe Grüße
Astrid

[zusätzliche, passende Links eingefügt]
Eine fremde Kultur ergründen zu wollen, ist wie der Versuch, den Horizont zu erreichen... Irgendwann steht man wieder an dem Punkt, an dem man begonnen hat - doch der Blick zum Horizont ist ein anderer. [A. Bokpe]
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Petra on Tour
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Unicef warnt vor Waisentourismus

Ungelesener Beitrag von Petra on Tour »

Vielen Dank für diesen fundierten Beitrag. Hier noch ein sehenswertes Video zum Thema:

http://www.ardmediathek.de/tv/Panorama/ ... tId=310918

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