Zu labil zum Reisen?

Worüber man in der Welt-Reise-Community so spricht / sprechen sollte, wo Du Reisethemen diskutieren, von Deinem Fernweh daheim oder Heimweh unterwegs berichten - oder auch außerhalb Deines Vorstellungsbereichs einfach mit anderen Mitgliedern der Weltreise-Community "labern" kannst... (Keine Reise-Infos hier!)
Forumsregeln
Ob als Urlauber oder Hardcore- Traveler: Reisen bildet und ändert das Bewusstsein. Freier Austausch unter Betroffenen.
Hier im Plauderbereich der Reisecommunity aber bitte KEINE konkreten Reiseinfos fragen oder posten, denn die gehören einzelthematisch in den Reise-Info-Pool. sodass sie als Sachthemen ergänzbar, aktualisierbar und für andere hilfreich findbar bleiben. Danke!
Jörg1969
Kiebitz
Beiträge: 7
Registriert: 05 Sep 06 21:17

Zu labil zum Reisen?

Ungelesener Beitrag von Jörg1969 »

High!

Seit meiner Pubertätszeit (die jetzt 25 Jahre zurückliegt) träume ich von monate-, jahre- oder sogar jahrzehntelangen Reisen auf eigene Faust durch sämtliche Klimazonen und Kulturkreise (wobei meine besondere Vorliebe allerdings Zentralasien (Afghanistan!) und dem indischen Subkontinent gilt), nach Art der Globetrotter der 60er und 70er Jahre, eventuell sogar mit dem Fahrrad.

Ich habe seither Unmengen an Reiseliteratur vor allem (aber nicht nur) über die oben genannten Weltgegenden gelesen, aber mit zunehmendem Alter und fortdauernder beruflicher Erfolglosigkeit (bin Hartzer) frage ich mich ersthaft, ob ich diesen Traum jemals werde leben können.

Das Haupthindernis sowohl für das Reisen als auch (bislang) für eine Berufstätigkeit jenseits von "Working Poor"-Jobs sehe ich in meiner defizitären Persönlichkeitsstruktur: Ängste, Zwänge, ein (bis jetzt jedenfalls) tief pessimistisches Selbst- und Weltbild, mehrere Psychiater/Therapeuten haben bei mir eine Borderline-Störung diagnostiziert. Seit nunmehr fast 17 Jahren bin ich auf Medikamente zur Dämpfung der Zwänge angewiesen, ich habe leider die Erfahrung gemacht, dass bei Absetzen der Medikamente (Neuroleptikum und Antidepressivum) die Zwangsgedanken spätestens nach einigen Monaten wieder massiv einsetzen und ich daher auf absehbare Zeit nicht ohne das Zeug leben kann.

Und dann lese ich hier und anderswo (z. B. auf www.rad-forum.de) von geschmeidigen, elastischen Lebenskünstlern, vor Energie nur so strotzend, die anscheinend fast überall auf der Welt klarkommen... während ich seit meinem Auszug aus dem Elternhaus (Ende 1991) nicht weiter als bis Berlin, Paris und London gekommen bin... da bin ich oft den Tränen nahe!

Seit April bin ich mit einem sehr lieben Menschen zusammen, der selbst zwar nicht die Diagnose "psychisch krank" hat, aber nichtsdestotrotz sehr in seiner heimatlichen Umgebung verwurzelt ist, für den Reisen, schon ein Besuch bei mir im 80 km entfernten Köln, ein enormes Maß an Selbstüberwindung bedeutet, vor Flugreisen hat er geradezu panische Angst...

Man soll zwar niemals "nie" sagen - aber im Moment kann ich beim besten Willen für mich bzw. uns beide keine Perspektive für den Aufbruch ins große wilde Leben da draußen weit jenseits von Standort-Deutschland-Hysterie, Hartz IV und Aldi-Warteschlangen sehen... wie seht ihr das?

Bis bald,

Jörg
Wie weit ich auch immer reise - ich entgehe mir nicht!
Benutzeravatar
Christian.Rio
Reise-Geburts-Helfer
Beiträge: 278
Registriert: 19 Feb 04 13:54

Zu labil zum Reisen?

Ungelesener Beitrag von Christian.Rio »

Hallo Jörg!

Zunächst mal finde ich es bewundernswert und mutig, dass Du hier so offen Deine Situation schilderst. So wie Du schreibst, bist Du für mich alles andere als krank. Du besitzt die hohe Gabe der schonungslosen Selbstreflektion. Die Frage die ich mir in solchen Fällen immer stelle ist: Bist du krank und von einer gesunden Gesellschaft umgeben? Oder ist dein Geist überdurchschnittlich gesund und leidet deshalb unter der kranken Gesellschaft, weshalb er sich fälschlicherweise für krank hält? Das Bestreben der Gesellschaft besteht ja darin, den Glauben an das System zu nähren - durch die Erziehung auf allen Gebieten, was ja schon mit dem Kindergarten beginnt. Menschen, die "aufwachen" und dann seelisch mit dieser Welt kollidieren, werden als krank eingestuft und sollen durch entsprechende Mechanismen wieder zum Funktionieren gebracht werden - um der Gesellschaft weiterhin potentiell dienlich sein zu können.

Deswegen äußere ich auch große Zweifel an der Psychiatrie, die ja Teil dieses Systems ist. Und vor allem habe ich noch größere Zweifel am Einsatz von Psychopharmaka. Für mich stellt sich hier das Henne-Ei Problem: Liegt eine funktionelle Störung vor, welche die seelischen Probleme verursacht; oder sind diese Funktionsstörungen die körperlichen Symptome der seelischen Probleme? Es steht mir natürlich nicht zu, all das pauschal abzuurteilen. Dafür habe ich von der Materie zu wenig Ahnung. Aber ich denke, dass trotz Deines labilen Zustandes eine Reise Dir eine Chance bieten kann.

Ich selbst startete 2004 auf eine Reise. Der erste Monat war schwer und ich wusste eigentlich nach dortiger Ankunft gar nicht mehr, was ich denn nun hier soll am anderen Ende der Welt. Aber zum Glück hielt ich durch und die Zeit tat ihr übriges. Das erste Mal in meinem Leben fühlte ich mich so richtig lebendig und alle Bedenken und Ängste waren weg. Ich kannte das vorher nicht, dass man in einen solchen Zustand kommen kann. Leider konnte ich mir das aber nicht für die Zeit nach meiner Rückkehr bewahren. Dort warteten Probleme auf mich, die eigentlich schon uralt sind (Familie, Kindheit). Der Kontrast zwischen Reise und Rückkehr löste Depressionen aus, die schon immer latent vorhanden waren. Meinen Zustand kann man seither auch als sehr labil bezeichnen, weshalb mein komplettes Leben gekippt ist.

Doch eines weiß ich wenigstens seither: Dass die Welt nicht so schlecht ist, wie sie oft scheint. Vor allem aber, dass ich die Fähigkeit, mich glücklich und frei fühlen zu können, nicht verloren habe. Diese Einsicht gab mir die Reise. Denn das wurde durch das Trauma der Familienverhältnisse, in denen ich aufgewachsen bin, zuvor immer erstickt. Und dass mein altes Leben nun eben zugrundegerichte ist, betrachte ich mittlerweile als notwendige Zerstörung vor dem Wiederaufbau.

Aber warum erzähle ich Dir das? Erstens weil ich Deine Situation sehr gut verstehen kann. Und zweitens hoffe ich, Dir etwas Mut und Vertrauen in Dich selbst geben zu können. Im schlimmsten Fall würdest Du vor Panik wieder schleunigst nach Hause zurückkehren. Im besten Fall aber kann es Dir vielleicht helfen, Deine Zwänge und Ängste besser zu bewältigen oder sogar abzulegen. Und es muss ja nicht gleich das andere Ende der Welt sein. Du hast ja gesagt, dass Du Hartz IV Empfänger bist, was Deine finanziellen Möglichkeiten wohl beschränkt. Dafür aber hast Du etwas anderes wertvolles: Zeit. Und Europa bietet sehr reizvolle Ecken, die man per Fahrrad und Zelt bestimmt auch mit vertretbarem finanziellem Aufwand besuchen kann. Außerdem wäre es für Deine Bekanntschaft sicher erstmal leichter, nicht gleich den Kontinent zu wechseln. Vielleicht ist das nur eine Frage der Gewöhnungszeit.

Jedenfalls hoffe ich, dass Du einen Weg findest, Dein Leben zu genießen - ganz gleich, wie das passieren wird. Denn die Erfüllung liegt für jeden ganz individuell. Es muss nicht unbedingt eine Reise sein, auch wenn die Berichte aus fernen Ländern so verheißungsvoll erscheinen. In meinem Fall hat es zwar geholfen - das hätte aber ebenso z.B. durch eine neue Freundin oder sonstwas passieren können. Es wäre natürlich schön, wenn Du hier irgendwann Reiseerlebnisse teilen könntest. Aber die Hauptsache ist doch, dass Du Deinen persönlichen Weg findest. Glück ist eben nichts, wo man hinreisen kann. Glück ist mal und ist mal nicht. Es ist ja schon mal ein großes Glück, dass Du einen lieben Menschen an Deiner Seite hast!

Viele Grüße

Christian
Jörg1969
Kiebitz
Beiträge: 7
Registriert: 05 Sep 06 21:17

Zu labil zum Reisen?

Ungelesener Beitrag von Jörg1969 »

High!
Christian.Rio hat geschrieben:Hallo Jörg!

Zunächst mal finde ich es bewundernswert und mutig, dass Du hier so offen Deine Situation schilderst. So wie Du schreibst, bist Du für mich alles andere als krank. Du besitzt die hohe Gabe der schonungslosen Selbstreflektion. Die Frage die ich mir in solchen Fällen immer stelle ist: Bist du krank und von einer gesunden Gesellschaft umgeben? Oder ist dein Geist überdurchschnittlich gesund und leidet deshalb unter der kranken Gesellschaft, weshalb er sich fälschlicherweise für krank hält?
Sagen wir, mir fehlt es (im Moment noch jedenfalls) an seelischer Widerstandskraft, mit den Angst auslösenden Aspekten des Lebens in der heutigen Welt (Sozialabbau, Leistungsstreß, Terrorismus, Kriegsgefahr, Umweltkatastrophen) so umzugehen, dass meine Alltagstauglichkeit (von Reisetauglichkeit gar nicht zu reden) nicht beeinträchtigt wird - heute morgen im "Deutschlandfunk" ein Bericht über das neueste Gutachten der "Wirtschaftsweisen", die allen Ernstes empfehlen, das ALG II deutlich unter das Existenzminimum (konkret: auf 240 Euro) zu senken, um Arbeitslose in Hungerjobs treiben zu können, prompt war ich wieder fertig mit den Nerven und die folgende Stunde erstmal damit beschäftigt, mich bei einem Freund am Telefon auszuheulen und nach Zusatzinformationen zu dieser Nachricht zu suchen...
Christian.Rio hat geschrieben: Deswegen äußere ich auch große Zweifel an der Psychiatrie, die ja Teil dieses Systems ist. Und vor allem habe ich noch größere Zweifel am Einsatz von Psychopharmaka.
Ich habe leider die Erfahrung gemacht, dass ich ohne nicht klarkomme... und allein das dürfte meine Globetrotter-Möglichkeiten bis auf weiteres eng begrenzen - als jahrelang durch die Weltgeschichte streunender Aussteiger-Nomade ohne Netz und doppelten Boden darf man einfach nicht chronisch auf irgendwelche Medikamente oder ärztliche Behandlungen angewiesen sein, ein Diabetiker könnte z. B. auch
nicht einfach so auf den großen Trip gehen (einen solchen Fall kenne ich aus meinem Freundeskreis).

Was sicherlich stimmt (und zu einem großen Teil zu meinen Personlichkeitsdefiziten beträgt, wenn nicht sogar ihren Kern ausmacht), ist, dass ich in meinem bisherigen Leben vor allem gelernt habe, Angst zu haben, mir nichts zuzutrauen und im Zweifelsfall klein beizugeben... und auf der anderen Seite dann schon seit meinem 15. Lebensjahr die großen wilden Träume von Radtouren nach Afghanistan (siehe dazu auch meine Homepage), Indien und womöglich noch weit darüber hinaus - dieser Widerspruch ist schwer auszuhalten!
Christian.Rio hat geschrieben: Aber ich denke, dass trotz Deines labilen Zustandes eine Reise Dir eine Chance bieten kann.
Vielleicht... aber meine bisherigen Reiseerfahrungen bewegen sich in eher engen Grenzen, 1988 eine 2-Wochen-Pauschalreise nach Tunesien (damals ging es mir psychisch übrigens noch schlechter als heute, ich hatte noch keine Therapie, trotzdem fand ich die Kraft, insgesamt dreimal aus dem Touri-Ghetto in Hammamet auszubrechen, auf eigene Faust mit dem Zug nach Tunis zu fahren und die Stadt zu erkunden - für Karthago und Sidi Bou Said hat es damals leider nicht gereicht...), 1991, mittlerweile Student, hatte ich hochfliegende Reisepläne, die ich im Laufe des Jahres aber alle zerschlugen (Marokko, Wanderung entlang des Pyrenäen-Hauptkammes, Albanien, Tadschikistan - letzteres hätte fast geklappt, leider war der Freund, mit dem ich zusammen an jener organisierten Radtour von Duschanbe nach Samarkand teilnehmen wollte, in letzter Minute aus familiären Gründen verhindert - ohne ihn wollte ich nicht fahren, und ein halbes Jahr später brach in Tadschikistan der Bürgerkrieg aus... die vielleicht größte Dummheit meines Lebens!)... dann ging mir das Leben im "Hotel Mama" doch zunehmend auf der Nerven, weshalb ich Ende '91 auszog... und seither sieht es ziemlich armselig mit Reisen aus, wie gesagt, Berlin, Paris, London (bzw. Portsmouth und Isle of Wight) - weiter bin ich nicht gekommen, und länger als eine Woche war ich auch nie weg... zu meiner "Ehrenrettung" kann ich immerhin sagen, dass bis auf den Wochenendtrip nach Paris (ein Geschenk zum 30. Geburtstag) es sich durchweg nicht um Pauschalreisen handelte, sondern ich zu Besuch bei Freunden und Bekannten war, was natürlich die Übernachtungskosten drastisch reduzierte.

Christian.Rio hat geschrieben: Ich selbst startete 2004 auf eine Reise. Der erste Monat war schwer und ich wusste eigentlich nach dortiger Ankunft gar nicht mehr, was ich denn nun hier soll am anderen Ende der Welt.
Brasilien? (wegen "Rio" in deinem Usernamen)
Christian.Rio hat geschrieben: Meinen Zustand kann man seither auch als sehr labil bezeichnen, weshalb mein komplettes Leben gekippt ist.
Was machst du jetzt dagegen?
Christian.Rio hat geschrieben: Doch eines weiß ich wenigstens seither: Dass die Welt nicht so schlecht ist, wie sie oft scheint.
Wenn ich mir die Berichterstattung in den Massenmedien ansehe, kann ich mich des Eindrucks kaum erwehren, dass die Welt ein einziges großes KZ ist, und ich eher zufällig das (relative) Glück habe, warm und trocken in der Kommandanturbaracke wohnen zu dürfen... und wenn ich mein Wohnklo verlasse, habe ich durchgehend das Gefühl, in einem Land zu leben, das eher für Autos als für Menschen gemacht ist, die Leute, denen man draußen begegnet, mit kalten, gehetzten Blicken, Bässe wummern, Sportauspuffe röhren, auf Schritt und Tritt scheißt einem allgegenwärtige Plakatwerbung Propaganda für Handies, Zigaretten, SUVs und Privatfernseh-Schund ins Gehirn... und dann ist auch noch acht Monate im Jahr Winter... schaurig, schaurig!
Christian.Rio hat geschrieben: Vor allem aber, dass ich die Fähigkeit, mich glücklich und frei fühlen zu können, nicht verloren habe.
Meine Güte, wann habe ich mich das letzte Mal richtig frei und glücklich gefühlt... Ende Mai 2004, als ich mich über die Pfingsttage aufmachte zu einer Radtour durchs Sauerland - die dann in Wipperfürth frühzeitig zu Ende war, weil ich natürlich nicht auf die Idee gekommen war, frühzeitig einen Platz in der dortigen Jugendherberge zu reservieren - auf früheren Touren war das auch nie nötig gewesen, ich kam auch um 22 Uhr noch problemlos rein...
Christian.Rio hat geschrieben: Du hast ja gesagt, dass Du Hartz IV Empfänger bist, was Deine finanziellen Möglichkeiten wohl beschränkt.
Zur Zeit befinde ich mich in einer Umschulung zum Programmierer, die noch bis Ende April nächsten Jahres dauern wird... ich kann nur hoffen, bis dahin flüssig genug C++ und Java zu "sprechen", um damit in Zukunft meine Brötchen verdienen zu können!

Cool wäre es natürlich, wenn ich mich damit irgendwann auch auf Reisen in meine Sehnsuchtsländer finanzieren könnte - jungen Afghanen als Informatiklehrer an der Technischen Fakultät in Kandahar Computersprachen beibringen, den dortigen Dekan, Dr. Darwiza Achakzi, kenne ich persönlich ganz gut, da ich in den letzten Jahren in einem Verein zur Förderung von Schulprojekten in Südafghanistan engagiert war, dessen Ko-Vorsitzender er war...

Aber der Weg dorthin ist lang und steinig (so steinig wie die Zentralroute von Herat nach Kabul), zunächst einmal muss ich diese Ausbildung gut abschließen und anschließend einige Jahre Praxiserfahrung sammeln, denn allein mit dem Durchbüffeln von Lehrbüchern wird man noch kein guter Programmierer oder Softwareentwickler... und dann müssen die lieben Taliban in den Südprovinzen auch mitspielen, im Moment sieht es da ja eher finster aus...
Christian.Rio hat geschrieben: Dafür aber hast Du etwas anderes wertvolles: Zeit.
Jetzt in der Ausbildung eher weniger, in der zweiten Oktoberhälfte habe ich wieder zwei Wochen Urlaub, werde dabei aber wohl eher zu Hause bleiben (oder allenfalls kurze Fahrradtrips unternehmen), da ich jeden Euro für meinen phantasmagorischen Afghanistan-Trip spare...
Christian.Rio hat geschrieben: Außerdem wäre es für Deine Bekanntschaft sicher erstmal leichter, nicht gleich den Kontinent zu wechseln. Vielleicht ist das nur eine Frage der Gewöhnungszeit.
Da könntest du recht haben... und ganz langsam finden wir beide einen Weg aus der Enge des Alltags!

Bis bald,

Jörg
Wie weit ich auch immer reise - ich entgehe mir nicht!
Benutzeravatar
Julchen
WRF-Spezialist
Beiträge: 1030
Registriert: 17 Mär 04 13:24
Wohnort: Stuttgart

Zu labil zum Reisen?

Ungelesener Beitrag von Julchen »

Hallo Jörg, hallo Christian,

ebenfalls "Psychokrüppel", bin ich vor 4 Wochen von meiner 1jährigen Reise zurückgekommen. Ich bin seit meiner Kindheit depressiv, seit ca. 6 Jahren endlich in Behandlung (Therapie, Antidepressiva (inzwischen Zoloft)), aber habe immer noch manchmal Rückfälle.

Auf der Reise gings mir mal so, mal so. Manche Sachen finde ich unterwegs einfacher, man ist nicht so im Alltagstrott drin, und das Leben in D empfinde ich manchmal als furchtbar bedrückend. Und wenn man in einem depressiven Loch drin ist, können Freunde einem ja auch nicht helfen, man muss alleine rauskommen, von daher ist es ja auch egal, wenn man alleine ist. Man kann den Ort wechseln, manchmal ändert das ja auch die Stimmung ein bisschen.

Andererseits hat man eben kein "Nest", wo man sich einigeln kann. Manchmal hat mir das schon gefehlt. Aber andererseits ist das alles ja auch nur Illusion...

Von daher ist es ja eigentlich egal, wo einen die Depression oder was auch immer überkommt.

Ich sehe jedenfalls nicht ein, dass ich wegen meiner Krankheit auf Reisen und Auslandsaufenthalte verzichten soll. Irgendwie bin ich schon genug gestraft deswegen, finde ich... Ich weiß, dass ich vermutlich nie auf mein Medikament verzichten werde können. Aber das kriege ich auch unterwegs, auch ohne Rezept... Für den Notfall habe ich auch meine "Notfallpillen" (starkes Beruhigungsmittel, Tavor), die mich in den krassen Situationen vor Selbstverletzung oder Schlimmeren retten können.

Unterwegs hatte ich immer mal wieder Phasen/ Tage, an denen es mir schlecht ging. Beim Reisen wird man manchmal gezwungen, sich ziemlich krass mit sich selbst auseinanderzusetzen, und das war manchmal sehr schmerzhaft. Irgendwie erlebt man auf Reisen vieles so intensiv... vielleicht lebt man einfach intensiver als im Alltag. Aber trotzdem war mein Reisejahr eine wunderschöne Zeit, in der ich auch viel über mich selbst gelernt habe und die ich niemals missen möchte.

Von daher stimme ich Christian absolut zu mit
Aber ich denke, dass trotz Deines labilen Zustandes eine Reise Dir eine Chance bieten kann.
Und dabei
dass ich in meinem bisherigen Leben vor allem gelernt habe, Angst zu haben, mir nichts zuzutrauen und im Zweifelsfall klein beizugeben
kann Dir eine Reise bestimmt helfen. man ist auf sich selbst gestellt, aber eben gerade daraus lernt man so viel und gewinnt irgendwie Selbstvertrauen... Letztlich muss man vielleicht nur die Angst vor dem Kontrollverlust überwinden und einfach leben... klingt so schön leicht, gell?

Ich wünsche Euch beiden alles Gute.
Euer julchen
Wo ein Wille ist, mein Herz, da ist auch ein Gebüsch. (Element of Crime)
Benutzeravatar
Christian.Rio
Reise-Geburts-Helfer
Beiträge: 278
Registriert: 19 Feb 04 13:54

Zu labil zum Reisen?

Ungelesener Beitrag von Christian.Rio »

Jörg1969 hat geschrieben: Brasilien? (wegen "Rio" in deinem Usernamen)
Oh, das Rio kam anders zustande. Ich hatte ganz zu Beginn mal den Usernamen "Rio Reiser". Zur besseren Identifizierung bat ich dann MArtin, diesen zu ändern. Das Rio behielt ich aber bei, damit alte Beiträge weiterhin verständlich bleiben, wenn da jemand mit Rio angesprochen wird.

Gewesen bin ich hauptsächlich in Neuseeland. Dort haben mich Natur und Menschen sehr stark angesprochen. Es ist dort noch Luft zum Atmen, weniger Hektik, die Menschen sind entspannter, die Orte haben in der Regel keine oder kaum Hochäuser (außer das Zentrum von Auckland).
Jörg1969 hat geschrieben: Was machst du jetzt dagegen?
Der erste Schritt für mich war, das Destruktive in mir anzunehmen. Ich habe außerdem begriffen, dass mich niemand aufessen wird, wenn mein Leben nicht nach Allgemeinschema verläuft. Alte Denkmechanismen sind aber schwer abzulegen. Es wird aber besser, seit ich den Untergang meines alten Ich als Vorstufe zur Geburt eines neuen sehe. Loslassen ist etwas, was ich lernen musste. Das ist sicher ein Schlüssel dabei. Meine Lebensvorstellungen waren vorher extrem verschieden von dem, was ich im Kern verspüre. Dinge, die mir einmal wichtig waren, sind unwichtig geworden. So habe ich z.B. nach und nach alles verkauft, was ich nicht unmittelbar gebrauchen kann. Ich sammle nichts und hänge wesentlich weniger als früher der Perfektion nach. Bin übrigens auch aus dem IT-Bereich, aber bei mir ging das Studium nach hinten los. Bestimmt hätte ich mich nach dem Diplom in die übliche Schiene einklinken und gut Geld verdienen können. Aber ich habe für mich herausgefunden, dass ich nicht der Typ für Firmen-Karriere und auch nicht für "Nerd"-Berufe bin. Ich identifiziere mich in keinster Weise mit diesen Dingen. Deshalb habe ich mich bewusst dafür entschieden, die Möglichkeiten eines Besserverdienenden sausen zu lassen. Ich suche mir zunächst lieber einen Job mit weniger Stress bzw. hege den Plan, in absehbarer Zukunft eine ganz andere Richtung zu gehen, so dass ich nicht mehr von der Lohnsklaverei abhängig sein werde. Denn ich tue mich genau wie Du recht schwer mit der Integration in eine Arbeitswelt, in der man reibungslos funktionieren muss.
Jörg1969 hat geschrieben: Wenn ich mir die Berichterstattung in den Massenmedien ansehe, kann ich mich des Eindrucks kaum erwehren, dass die Welt ein einziges großes KZ ist, und ich eher zufällig das (relative) Glück habe, warm und trocken in der Kommandanturbaracke wohnen zu dürfen... und wenn ich mein Wohnklo verlasse, habe ich durchgehend das Gefühl, in einem Land zu leben, das eher für Autos als für Menschen gemacht ist, die Leute, denen man draußen begegnet, mit kalten, gehetzten Blicken, Bässe wummern, Sportauspuffe röhren, auf Schritt und Tritt scheißt einem allgegenwärtige Plakatwerbung Propaganda für Handies, Zigaretten, SUVs und Privatfernseh-Schund ins Gehirn... und dann ist auch noch acht Monate im Jahr Winter... schaurig, schaurig!
Ich meinte mit der schönen Welt nicht den alltäglichen Wahnsinn, sondern hab mich da in Gedanken auf die Schönheit der Natur bezogen. Diese bleibt den meisten von uns Städteghetto-Bewohnern ja leider weitestgehend vergönnt im Alltag. Ich habe aber immer noch die Hoffnung, dass ich mir eine kleine Nische, einen Platz suchen kann - selbst wenn es nur ein simpler Park sein sollte, der zu meinem Stammbesuch wird. Ansonsten hast du in einem Absatz genau das gesagt, was ich immer wieder fühle, wenn ich dem Treiben da draußen zusehe. Es ist wirklich ein blinder, autofahrender Menschenhaufen, der für den Erwerb von Schnick-Schnack wild umherwuselt und die Stille kaputtmacht. Überall nur Lärm, Hektik und abgestumpftes Konsumieren. Ja, es ist wirklich zum Erschaudern. Trotz allem geht es uns aber schizophrenerweise - zumindest materiell - im Vergleich zur Bevölkerung in richtig armen Ländern noch richtig gut. Wir bekommen leider nur immer mehr an der Klatsche, während sich diese anderen Länder die Finger nach unserem Leben lecken.
Jörg1969 hat geschrieben: Cool wäre es natürlich, wenn ich mich damit irgendwann auch auf Reisen in meine Sehnsuchtsländer finanzieren könnte
Ich denke auch, dass das eine gute, wenn nicht sogar bessere Alternative ist. Mittlerweile stehe ich dem typischen Rucksackreisen ohne eigentlichen Zweck auch etwas kritischer gegenüber als das früher mal war. Backpacker sind heutzutage nicht mehr mit dem Geist der 60er behaftet, sondern mehrheitlich auch nur alltägliche Touristen. Ein Freund von mir war früher z.B. Übersee in diversen Ländern unterwegs. Er war nur zum Reisen dort, unter anderem in Neuseeland. Bei ihm hatte diese letzte Reise das genaue Gegenteil wie bei mir ausgelöst. Er litt temporär unter geistiger Verwirrung, weil er innerlich so viel mit sich allein war. Heute lebt er aber glücklich in Spanien und sagt darüber, dass diese Variante das Beste ist, was er je gemacht hat. Er schaut sich das Land nicht nur an, sondern er lebt darin mit allem, was dazu gehört. So zieht er nicht einfach umher bis der Geldbeutel schmal wird. Sondern er arbeitet, isst, schläft, hat Freunde dort und lernt auch noch fließend eine Sprache. Es ist natürlich auch eine ganz persönliche Sache, was man unter Reisen versteht und wie einem das unverbindliche Umherziehen im Vergleich zur Möglichkeit einer Heimat liegt. Wenn du es auf diesem Weg machen kannst, dass du in einem anderen Land wirklich lebst und arbeitest, hättest du das eine mit dem anderen verbunden. Es ist sozusagen eine Reise mit Langzeitaufenthalt. Du siehst die Welt, kannst aber trotzdem eine feste Basis haben, musst nicht wegen der Sache mit deinen Medikamenten bangen und hast eine konkrete Aufgabe, die dich ablenkt.

Ich wünsche Dir auf alle Fälle, dass Deine Sehnsüchte nicht unerfüllt bleiben!

Christian
Benutzeravatar
_philipp_
WRF-Spezialist
Beiträge: 309
Registriert: 16 Jan 05 11:25
Wohnort: Würzburg

Zu labil zum Reisen?

Ungelesener Beitrag von _philipp_ »

Hi Jörg,

ich muss zugeben wo ich deinen Beitrag zum erstmal gelesen habe dachte ich : "Oh mann wie passt denn das zusammen?" .

Irgendwie kann ich bei dir auch den entscheidenden Funken erkennen, du hast Sehnsucht.
Außerdem du hast einen entscheidenden Vorteil: "Du weist was dich beeinflußt und bremst".
Wie heist es doch: Selbsterkenntnis ist der beste Weg zur Besserung"

Nun ist es an dir, dich so zu akzeptieren wie du bist, mit all deinen Ecken und Kanten.

Wenn du das geschaft hast, dann kannst du dir doch überlegen wie du deine Ecken in ein gedachtes Oval der Reise unterbringst.
Irgendwann wirst du erkennen das mit einem Druck hier und einem Stoß da es irgendwann doch passt.

Was ich damit sagen will ist folgendes:
Bleib am Ball, stöbere nach Informationen und in ein paar Jahren wird sich deine Situation bestimmt gebessert haben und dann kann es bei dir auch los gehen.

Bye

Philipp
Benutzeravatar
la_kaza
Aktives WRF-Mitglied
Beiträge: 68
Registriert: 21 Okt 04 17:20
Wohnort: hamburg

Zu labil zum Reisen?

Ungelesener Beitrag von la_kaza »

mhm vielen dank einer so offenen unterhaltung auch über psychische "probleme" , es mag ein wenig komisch klingen aber es "steigert" den wert des forums das selbst solche sachen angesprochen werden können!!!

euch allen weiterhin alles alles gute und das ihr euren weg weiterhin gehen und finden werdet!!!
reisen ist leben -genauso wie das leben eine reise ist...
  • Ähnliche Themen -> Suchen & dort Nachfragen wenn passend
    Antworten
    Zugriffe
    Letzter Beitrag

Zurück zu „Allgemeiner Austausch - Selbsthilfegruppe Fernweh & Heimweh“